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Zeitzeugenberichte VIII

H. P., Berlin    Teil 3

Sie standen ungefähr 30 Meter nördlich der Eisenbahntrasse auf dem Kolonnenweg, dort, wo die Hundelaufanlage mit ihren beiden Zäunen endet und links davon (nach Süden) nur noch der 3 Meter hohe Streckmetallzaun den Fluchtweg versperrte. H. P. als Postenführer ergriff die Initiative. “Du sagtest doch mal, dass du abhauen wolltest?” - “Wenn Gelegenheit wäre, würde ich flüchten”, entgegnete der andere und P. sagte. “Ich bin dein Vorgesetzter, und ich gebe dir jetzt den Befehl zu flüchten!” Der springt auf, wirft Regencape und Waffe weg, rennt bis zum Hundelaufzaun und kommt wieder zurück. Da haben wir uns angeschaut und ich sagte, “Du, ich mache Ernst. Ich will jetzt mit dir flüchten.” Wir luden die Waffen durch (man weiß ja nie!), und rannten wieder vor, dorthin wo die Hundetrasse endete. Dabei fing der Hund an zu bellen und wir fielen in eine der vielen Fallgruben, die ungefähr 0,6 x 0,6 x 0,5 m tief waren. Wir kauerten uns zusammen, und weil das Gras hoch und struppig war, konnte der Hund uns nicht mehr sehen und beruhigte sich endlich wieder. Zum Glück gab es in den Betonpfosten des Grenzzaunes vor uns etwa in Augenhöhe Löcher, in die man den Lauf der Kalaschnikow gerade so hinein stecken konnte. Das machte ich bei einem Pfosten 5 Meter neben dem Ende der Hundetrasse und stellte mich mit dem Rücken an den Zaun. Mit dieser Räuberleiter und mit Hilfe der Kalaschnikow gelangte K. hinauf und blieb oben auf dem Pfosten sitzen.

Dann reichte er mir die Hand herunter, um mich hoch zu ziehen. Diese Situation und der kameradschaftliche Blick in dien Augen - das werde ich nie vergessen! Denn das war nicht abgesprochen. Dann sprang K. drüben hinunter, und als ich nun auf dem Pfosten saß, fing der Hund wieder an zu bellen. Auch ich kam gut unten an und nun entdeckten wir unverhofft den alten eingewachsenen Stacheldrahtzaun (von 1951) vor uns. Mein Versuch, einen Pfosten davon umzustoßen, mißlang, und so liefen wir eilig am Zaun entlang die 30 Meter durch das Gestrüpp bis zur Brücke. Dort war kein Stacheldrahtzaun mehr, so dass wir gut hinüber gelangten. Geschafft! Doch jetzt bloß weg von der Grenze. Über ein Feld rannten wir auf Schöningen zu. Nach drei- oder vierhundert Metern nahm ich die MP vom Kameraden und schoß das Magazin leer. Das war wie ein Triumphgeschrei. Vom BGS oder Zoll war nichts zu sehen.

Wir rannten weiter nach Schöningen bis an ein Werkstor und meldeten uns beim Pförtner. Den bat ich, die Polizei zu informieren, und er spendierte jedem von uns eine Cola. Zum ersten Mal im Leben eine Cola trinken, welch ein Glücksgefühl! Die leer geschossene MP stand in der Ecke.

Noch am gleichen Tage begannen die Befragungen durch Polizei und Zoll. Und bereits um 15 Uhr berichtete der Deutschlandfunk über unsere Flucht.

Wenige Tage nach diesem 12. Juli kam der Ortspolizist zum Schuhmachermeister P. und fragte den Vater in merkwürdigem Ton: “Na, wie geht`s dir denn? “ Die Eltern schöpften Verdacht, wußten aber noch nicht, was geschehen war, und weil der VoPo nicht Genaues gesagt hatte, waren sie in Angst um den Sohn. Erst zwei Tage später erschien die Stasi - wie üblich in zwei schwarzen Limousinen - klärte die Eltern über die Fahnenflucht auf und setzte den Vater unter Druck. Er solle den Sohn aus dem Westen zurückholen! Der wollte das aber nur tun, wenn sie ihm versprechen würden, dass dieser dann nicht bestraft würde. Weil die Stasileute das nicht garantieren konnten, lehnte der Vater das Ansinnen ab. “Ich wäre sowieso nicht zurück gegangen”, sagte H. P., der zunächst in Gelsenkirchen landete und bald in Westberlin eine Existenz fand. Er hat diesen Schritt nie bereut. Seine größten Schwierigkeiten waren menschlicher Art: Im Westen hatte man ihn als “Kaffeesachsen” bezeichnet!

Als Fahnenflüchtiger durfte H. P., der längst in Westberlin seine Heimat gefunden hatte, natürlich nicht mehr in die Fänge der DDR-Organe geraten, er wäre sofort verhaftet worden. So musste er 21 Jahre lang bei jeder Urlaubsreise das Flugzeug benutzen, um aus der Inselstadt Westberlin heraus zu kommen, während Frau und Tochter das Auto auf der Transitstrecke nach Helmstedt benutzen konnten, was wesentlich günstiger war. Seine Anträge auf Amnestie und Benutzungserlaubnis für die Transitautobahnen, die er 1988 an den Generalstaatsanwalt der DDR, an das Ministerium für Staatssicherheit und abermals an den Generalstaatsanwalt stellte, wurden abgelehnt.

Aber zu Weihnachten 1989, nach dem Mauerfall, durfte H. P. zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wieder seine Heimat besuchen. Das Herzklopfen in Westberlin auf dem Weg zur Grenze war groß. Doch an der Stadtgrenze Berlin- Schönefeld (seine Frau saß am Steuer), wurden sie von DDR-Zoll und Volkspolizei mit einer überaus freundlichen Begrüßung überrascht, und nach Sichtung der Personalien durften sie mit “Gute Fahrt!” und einen Weihnachtsfestgruß die noch bestehende Grenze passieren!

Vielen Dank auch an Herrn P. für diesen ausführlichen Bericht.

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